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All-Inclusive-Adria: Ankunft (01)

Sie fällt mir sofort in die Augen. Gerade wie ein Pfeil, knochig, knorrig, kein Gramm Fett. Ihr schmaler Kopf, das helle, kurz geschorene Haar. Ihr Gesicht, eine Vogelmaske. In dem großen Lobbysaal des Vier-Sterne-Hotels an der montenegrinischen Adria streift sie zwischen den Tischen und hält ihr rotes Tablett in der rechten Hand wie ein Schwert. Sie sieht niemanden. Sie will keinen sehen.


Egal. Uns ist es völlig egal.


Wir sind wo ganz anders. Unter uns. In uns. Mit uns beschäftigt. Verdauen das üppige Abendessen. Fragen uns, warum das Bier, verdammt, so fad schmeckt. Holen uns ein Glas Wein; oder was Kräftigeres, einen Whiskey vielleicht. Gerda will Wasser, ihre Hände zittern, sie weiß nicht, ob sie heute früh ihren Hochblutabsenker schon genommen hat. "Wäre kein Wunder bei der Aufregung", sagt sie .Zwei junge Männer hätten sie und ihre Zimmerfreundin Gaby geweckt. Aus dem Bett geschmissen. Überschwemmung in ihrem Bad. Nicht mal duschen könne sie.

«Gaby, ist die Massage im Hotel eigentlich inklusive?» «Nein, nur Schwimmbad!» » Und Sauna?» «Weiß ich nicht.!» «Aha...» Ach, ein Nickerchen kurz vorm Abendessen wäre super. Im großen Bett, Fernsehen einschalten. 270 Programme. All inklusive! Ob die Handwerker endlich fertig sind...



Meine Augen flattern hin und her. Meine Ohren, zwei Geheimdienstler, belauschen penibel die Dialoge an den Tischen. Was sonst soll eine Pauschaltouristin, der All- inklusive-Gast, die Glücks-Testerin in diesem Frühjahr tun? Vollverpflegt, rund um die Uhr. Wie eine Made im Speck. Ein Irregefühl nach zwei Jahren Pandemie und einer direkt nach Karneval mit leichten Verlauf überstandenen Covid-Infektion. Was will man mehr.


Alles Böse wie alles Gute, sagt mein deutscher Mann, kommt immer zu Dritt.

Corona, Klimakatastrophe und nun der Krieg. Putins Bomben auf die Ukraine.

Wie die Dreifaltigkeit. Nur das Gegenteil.


Ich habe schnell überlegt und gleich entschieden:

Weg!

Zwei Wochen Adria: Kroatien, Bosnien, Montenegro. Früher alles meine Heimat. Jetzt alles Schnäppchen: Flug, Hotel, Frühstück, Transport, Reiseführer, All Inklusive: 199.-Euro. Weniger als zu Hause sitzen zu bleiben! Wer kann da noch nein sagen? Ich nicht!


"Ein reines Lockangebot! Rechne ruhig vier, fünf mal so viel!", steuert mein

deutscher Mann dagegen. Er hasst organisierte Gruppenreisen.

Zwei Wochen sich von einem halbgebildeten Reiseführern «seine Adria» erklären zu lassen? Nichts für ihn.

Die Massenabfertigungen am Büfett. Für ihn, den Foodie? Auf keinem Fall!

Die spießigen Kommentare der deutschen Schnäppchenjäger anhören? Um Gottes willen.

Ganz zu schweigen von Teppich,- Leder- und Schmuck-Drücker

Nein. Definitiv nicht!


Aber ja.

Genau das will ich: endlich ohne Limit leben.

Mein Gehirn völlig ausschalten.

Sorgenfrei unterwegs sein.

Meine Seele und Körper verwöhnen lassen.

Verantwortungslos wie ein Kind reisen.

Wie früher auf der Klassenfahrt.


Ja. Narren dürfen alles. All-Inclusive-Touristen auch.

Reisen, albern, saufen, lästern, meckern, grinsen, rülpsen, kotzen

Berge von Fleisch, Fisch, Kuchen und Eis verzehren

Wünsche zapfen am All-Inclusive-Hahn

Bier, Wein, Schnaps, Whiskey, Cola, Wodka

Alles in sich hinein kippen bis man umfällt?

Koma-Saufen bis zum Hirntod

Das willst Du?


Ich will Orte sehen, die ich in meinen Träumen immer sehe.

Orte, an den ich vor Glück sterben wollte .

An einem fast gestorben wäre,

hätte mich, das 14-jähriges Mädchen damals, mein Physiklehrer nicht gerettet,

rausgefischt aus dem tiefen Adriawasser,

in der letzten Sekunde zurück ins Leben beatmet.

Mit einem Kuss.


Er schweigt, schluckt, knirscht mit Zähnen...

Und: er kommt mit.

--

Der graue Himmel, graue Köpfe, graue Sitze

Mein Gehirn scanne, was ich rieche, schmecke, ahne.

Im Flieger nach Dubrovnik notiert meine rechte Hand:

Grau, wo ich hin gucke

Grau im Grau

Beginn einer Reise in den Schmerz

Die Abrechnung mit dem satten Leben und ewigen Hunger



PS:

All-Inclusive-Adria, die Reise nach Kroatien, Bosnien, Montenegro, früher alles mein Zuhause, heute das Schnäppchenparadies der Frührentner und anderen Glücksvögel aus Deutschland, Frankreich, Dänemark.

Ich war dabei. In der Rolle eines Aliens in der eigenen Heimat.

Die Heimat, die es nicht mehr gibt. Als 007 in geheimer Mission habe ich die zerstückelte Utopie vermessen und versucht zusammen zu flicken.

12 Folgen einer Abrechnung mit dem “satten Leben und ewigen Hunger”

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