Sie will vergessen, wer sie wäre, bevor sie wurde, was sie ist...
Knochig, knorrig, kühn streift sie zwischen den Tischen wie eine Peitsche.
Wie das schlechte Gewissen. Wie eine Strafe.
Von der ersten Minute an kleben meine Augen an ihr.
Gerade wie ein Pfeil, kein Gramm Fett, kurz geschorenes Haar. Ihr Gesicht, eine Vogelmaske. In dem großen Lobbysaal des Vier-Sterne-Hotels an der montenegrinischen Adria streift sie zwischen den Tischen und hält ihr rotes Tablett in der rechten Hand wie ein Schwert. Sie sieht niemanden. Sie will keinen sehen.
Ihr blasses, schmales, wie im Stein geschnitztes Gesicht schaut durch mich, durch uns hindurch
«Sprich mich nicht an!»
Am Buffet wird eifrig wie um die Wette gekämpft
Um die größte Pizza, um das letzte Schnitzel und die größten Kugel Eis
Jeder ist hier jedem ein eifriger Konkurrent
Ein Feind
Der Fremde
Ich glotze sie an.
Ich kann nicht aufhören, ihre Schritte anzustarren.
Ihre nur mühsam gezähmte Wut ist nicht zu übersehen.
Sie, die Kellnerin in einem internationalen Hotel an der Adria,
in dem die hungrige Rentner aus dem satten Europa auf Schnäppchenjagd sind,
muss vor allem: Dienen. Und Unsichtbar bleiben.
Aufräumen. Dreck beseitigen. Ordnung schaffen. Putzen.
Den ganzen Tag. Pausenlos. Dreißig Tage im Monat. Monatelang.
Eine ganze Saison, ein Leben lang.
Spricht mich nicht an!
Keine Sorge.
Ich spreche sie nicht an.
Noch nicht.
Keiner wird sie ansprechen
Niemand der All-Inclusive-Menschen sieht sie.
Jeder ist woanders. In sich. Mit sich beschäftigt.
Mit seinem Magen. Mit seinen Därmen
Sie will auch diesen Tag überleben.
Jeder ist hier jedem ein Wolf
Ein hungriger Kojote
Am All-Inclusive-Hahn fließt das Zeug
Bier, Wein.,Schnapps, Whiskey, Wodka...
Alles da.
Die Gläserberge wachsen in die Höhe
Drohen abzustürzen
Sie streift an uns vorbei
Ein dunkler Schatten. Dunkle Augenringe. Geräuschlos.
Ihre versteinerte Wut. Unsichtbar.
Das Geheimnis ihres Leides macht sie in meinem Augen unsterblich.
Schon von ihrem Aussehen, passt sie gar nicht hier her.
Ihre große Augen, der strenge, stachelige Blick, der alles in einer Sekunde erfasst und versteht...
Sie ist, phantasiere ich, eine Künstlerin, eine Malerin oder eine Fotografin
Vielleicht eine Dichterin
Ihre Gedichte, klug, tief, stachelig wie ihr Schmerz,
Kein Getränk der Welt wird ihren Durst stillen können
Niemandem wird sie ihre Bilder zeigen. Keinem ihre Verse, ihren Schmerz.
Diesen Blick kenne ich schon.
Grübelnd.
Nichts schmeckt.
Nichts ist es so, wie es sein soll.
Nein. Ich will kein Bier!
Danke. In Moment auch keinen Wein!
Schnaps. Ne. Danke.
Auch keinen Whiskey
Wasser ist gut! Bitte, ein Glas Wasser!
Mit einem kleinen Schuss Rosé, vielleicht...
In Slowmotion bewegt sich ein Alter mit Krawatte und viel zu großem Sacco, den sie Jupp nennen, zum Getränke-Hahn, Rosés abholen.
Läuft über die lange Hotelterrasse wie auf Eis
Jeder Schritt ein Kunstwerk
Keinen einzigen Tropfen verschüttet er
Kein Fleck auf dem Boden
Rosis Blick, zart, zittrig, eine Löwenzahn-Blüte im Abflug, streichelt ihn
Ihre faltigen, rot geschminkten Lippen suchen seine eingefallenen Wangen
Ihre linke Hand findet seine rechte,
Wie zwei Katzen schmiegen sie sich aneinander,
bevor sie gemeinsam an ihren Weingläser nippen
Die Kellnerin mit dem Vogel-Masken-Gesicht
räumt die leeren Weingläser ab.
Die Ohnmacht des Stolzes
Die stumme Wut
«Spricht mich nicht an!»
Mit ihrem roten Tablett streiftt sie, dann bleibt sie stehen. Beugt sich kurz.
Greift nach meinem Glas. Das Glas ist halbleer.
Ich habe Durst. Schnappe mir mein Glas. Lächle.
«Wait a moment, please...»
«Oh...Sorry...»
Ich verschlucke meine Weinschorle, das einzige, was ich hier noch trinken kann.
«Sve u redu...» (alles in Ordnung!) grinse ich. Gebe ihr nun das leere Glas.
Sie zuckt.
Ihre Muttersprache in meinem Mund scheint sie zu überraschen. Mehr noch. Sie guckt mich verdutzt. Wie könnte sie mit einer wie mir, 007, einer doppelten Spionin unter den deutschen All-Inklusiv-Gästen rechnen?
Ihre Visionen entstehen nachts.
Sie fotografiert Blumen, zarte Knospen.
Blumen sind geduldig, sagt sie
Sie tun niemandem weh. Sie bewegen sich nicht. Sie riechen schön und trösten.
Auch wen sie tot sind.
Ihre Fotos zerstückelt sie bis zur Unkenntnis.
Die Stücke, scharfe Scherben, klebt sie dann auf Papier.
Versetzt sie. Korrigiert Gott. Schafft neue Bilder.
Ihre Vision. Dekonstruktion der Gefühle.
Ihre Kunststücke verstecke sie hinter ihrem Schrank,
erzählt sie mir in unserem gemeinsamen, so vertrauten
trotzig Sarajevo-Sound, der klingt wie
eine Heavy-Metall-Ballade.
Warum eigentlich?
Hat sie Angst, ihre Kunst wird keiner verstehen
Oder: jeder wird sie verstehen.
Nein.
Sie erwartet nichts.
Sie verachte niemanden
Nicht mal uns, die All-Inklusiv–Touristen auf der Schnäppchentour
Wir sind ihr egal. Matsch.
Hätte sie ihren Ingenieur aus Kopenhagen geheiratet, wäre sie woanders.
Vielleicht längst geschieden.
Als geschiedene, alleinerziehende Mutter seiner (ihrer) zwei, drei oder vier Kinder hätte sie auch...
Er wollte sie tatsächlich heiraten, mit ihr vier Kinder auf die Welt setzten
Für sie und seine und ihre vier Kinder hatte er im Kopenhagen ein Haus eingeplant
Noch bevor die Kinder auf die Welt kamen-
Noch bevor er sie vor den Altar brachte
Noch bevor sie bereit war ja zu sagen
Das war sein Fehler
Sie, jung, schlank, wild,
eine Göre aus Sarajevo
frisch ausgebildet in Foto-Kunst,
liebte ihn wirklich. Auf ihrer Art.
Mit ihm, dem Wikinger, wollte sie die Welt erstürmen
Reiche Schlösser sehen, arme Länder bereisen, Eis und Hitze spüren, Kunst anbeten, in Kirchen tanzen, ihre Träume fotografieren
Doch er wollte nur eines: Ein Haus, eine Frau, sie, und Kinder. Vier Stück.
Was sei daran falsch gewesen, habe ratlos ihre Mutter mit dem Kopf geschüttelt.
Im weißen Kleid sehe sie wie ein Enge aus, habe er gesagt.
Ihre Tränen rollten unter dem weißen Schleier
Er dachte, sie weine vor Glück.
Kurz vor dem Altar, drehte sie sich um.
Und rannte zur Kirchentür hinaus.
Es tue ihr leid, sie könne noch nicht, sie müsse nach Hause.
In die Freiheit. In ihre Welt.
Er fuhr mit ihr zum Flughafen ohne ein Wort
Er drückte ihr ein Rückkehrticket, sechs Monaten gültig, in die Hand.
Er sei sicher gewesen, sie komme zurück
Verwandelt in einen Automaten,
streift sie mit einem Tablett zwischen den Tischen umher
Wo er jetzt lebt, fragt sie sich manchmal.
Ihr Leben, ein Spuck ins Gesicht.
Dienerin der All-Inklusiv-Horde aus dem satten Europa
Eine stumme Sklavin im eigenen Land
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