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All-Inklusive-Adria: Kojote (7)

Sie will vergessen, wer sie wäre, bevor sie wurde, was sie ist...


Knochig, knorrig, kühn streift sie zwischen den Tischen wie eine Peitsche.

Wie das schlechte Gewissen. Wie eine Strafe.


Von der ersten Minute an kleben meine Augen an ihr.


Gerade wie ein Pfeil, kein Gramm Fett, kurz geschorenes Haar. Ihr Gesicht, eine Vogelmaske. In dem großen Lobbysaal des Vier-Sterne-Hotels an der montenegrinischen Adria streift sie zwischen den Tischen und hält ihr rotes Tablett in der rechten Hand wie ein Schwert. Sie sieht niemanden. Sie will keinen sehen.


Ihr blasses, schmales, wie im Stein geschnitztes Gesicht schaut durch mich, durch uns hindurch


«Sprich mich nicht an!»


Am Buffet wird eifrig wie um die Wette gekämpft

Um die größte Pizza, um das letzte Schnitzel und die größten Kugel Eis


Jeder ist hier jedem ein eifriger Konkurrent

Ein Feind

Der Fremde


Ich glotze sie an.

Ich kann nicht aufhören, ihre Schritte anzustarren.

Ihre nur mühsam gezähmte Wut ist nicht zu übersehen.

Sie, die Kellnerin in einem internationalen Hotel an der Adria,

in dem die hungrige Rentner aus dem satten Europa auf Schnäppchenjagd sind,

muss vor allem: Dienen. Und Unsichtbar bleiben.

Aufräumen. Dreck beseitigen. Ordnung schaffen. Putzen.

Den ganzen Tag. Pausenlos. Dreißig Tage im Monat. Monatelang.

Eine ganze Saison, ein Leben lang.


Spricht mich nicht an!



Keine Sorge.

Ich spreche sie nicht an.

Noch nicht.

Keiner wird sie ansprechen

Niemand der All-Inclusive-Menschen sieht sie.

Jeder ist woanders. In sich. Mit sich beschäftigt.

Mit seinem Magen. Mit seinen Därmen


Sie will auch diesen Tag überleben.


Jeder ist hier jedem ein Wolf

Ein hungriger Kojote


Am All-Inclusive-Hahn fließt das Zeug

Bier, Wein.,Schnapps, Whiskey, Wodka...

Alles da.

Die Gläserberge wachsen in die Höhe

Drohen abzustürzen


Sie streift an uns vorbei

Ein dunkler Schatten. Dunkle Augenringe. Geräuschlos.

Ihre versteinerte Wut. Unsichtbar.


Das Geheimnis ihres Leides macht sie in meinem Augen unsterblich.


Schon von ihrem Aussehen, passt sie gar nicht hier her.

Ihre große Augen, der strenge, stachelige Blick, der alles in einer Sekunde erfasst und versteht...

Sie ist, phantasiere ich, eine Künstlerin, eine Malerin oder eine Fotografin

Vielleicht eine Dichterin

Ihre Gedichte, klug, tief, stachelig wie ihr Schmerz,

Kein Getränk der Welt wird ihren Durst stillen können

Niemandem wird sie ihre Bilder zeigen. Keinem ihre Verse, ihren Schmerz.

Diesen Blick kenne ich schon.

Grübelnd.

Nichts schmeckt.

Nichts ist es so, wie es sein soll.


Nein. Ich will kein Bier!

Danke. In Moment auch keinen Wein!

Schnaps. Ne. Danke.

Auch keinen Whiskey

Wasser ist gut! Bitte, ein Glas Wasser!

Mit einem kleinen Schuss Rosé, vielleicht...


In Slowmotion bewegt sich ein Alter mit Krawatte und viel zu großem Sacco, den sie Jupp nennen, zum Getränke-Hahn, Rosés abholen.

Läuft über die lange Hotelterrasse wie auf Eis

Jeder Schritt ein Kunstwerk

Keinen einzigen Tropfen verschüttet er

Kein Fleck auf dem Boden


Rosis Blick, zart, zittrig, eine Löwenzahn-Blüte im Abflug, streichelt ihn

Ihre faltigen, rot geschminkten Lippen suchen seine eingefallenen Wangen

Ihre linke Hand findet seine rechte,

Wie zwei Katzen schmiegen sie sich aneinander,

bevor sie gemeinsam an ihren Weingläser nippen


Die Kellnerin mit dem Vogel-Masken-Gesicht

räumt die leeren Weingläser ab.

Die Ohnmacht des Stolzes

Die stumme Wut


«Spricht mich nicht an!»


Mit ihrem roten Tablett streiftt sie, dann bleibt sie stehen. Beugt sich kurz.

Greift nach meinem Glas. Das Glas ist halbleer.

Ich habe Durst. Schnappe mir mein Glas. Lächle.


«Wait a moment, please...»

«Oh...Sorry...»


Ich verschlucke meine Weinschorle, das einzige, was ich hier noch trinken kann.

«Sve u redu...» (alles in Ordnung!) grinse ich. Gebe ihr nun das leere Glas.


Sie zuckt.

Ihre Muttersprache in meinem Mund scheint sie zu überraschen. Mehr noch. Sie guckt mich verdutzt. Wie könnte sie mit einer wie mir, 007, einer doppelten Spionin unter den deutschen All-Inklusiv-Gästen rechnen?


Ihre Visionen entstehen nachts.

Sie fotografiert Blumen, zarte Knospen.

Blumen sind geduldig, sagt sie

Sie tun niemandem weh. Sie bewegen sich nicht. Sie riechen schön und trösten.

Auch wen sie tot sind.


Ihre Fotos zerstückelt sie bis zur Unkenntnis.

Die Stücke, scharfe Scherben, klebt sie dann auf Papier.

Versetzt sie. Korrigiert Gott. Schafft neue Bilder.

Ihre Vision. Dekonstruktion der Gefühle.


Ihre Kunststücke verstecke sie hinter ihrem Schrank,

erzählt sie mir in unserem gemeinsamen, so vertrauten

trotzig Sarajevo-Sound, der klingt wie

eine Heavy-Metall-Ballade.


Warum eigentlich?

Hat sie Angst, ihre Kunst wird keiner verstehen

Oder: jeder wird sie verstehen.


Nein.

Sie erwartet nichts.

Sie verachte niemanden

Nicht mal uns, die All-Inklusiv–Touristen auf der Schnäppchentour

Wir sind ihr egal. Matsch.


Hätte sie ihren Ingenieur aus Kopenhagen geheiratet, wäre sie woanders.

Vielleicht längst geschieden.

Als geschiedene, alleinerziehende Mutter seiner (ihrer) zwei, drei oder vier Kinder hätte sie auch...

Er wollte sie tatsächlich heiraten, mit ihr vier Kinder auf die Welt setzten

Für sie und seine und ihre vier Kinder hatte er im Kopenhagen ein Haus eingeplant

Noch bevor die Kinder auf die Welt kamen-

Noch bevor er sie vor den Altar brachte

Noch bevor sie bereit war ja zu sagen

Das war sein Fehler


Sie, jung, schlank, wild,

eine Göre aus Sarajevo

frisch ausgebildet in Foto-Kunst,

liebte ihn wirklich. Auf ihrer Art.

Mit ihm, dem Wikinger, wollte sie die Welt erstürmen

Reiche Schlösser sehen, arme Länder bereisen, Eis und Hitze spüren, Kunst anbeten, in Kirchen tanzen, ihre Träume fotografieren

Doch er wollte nur eines: Ein Haus, eine Frau, sie, und Kinder. Vier Stück.

Was sei daran falsch gewesen, habe ratlos ihre Mutter mit dem Kopf geschüttelt.


Im weißen Kleid sehe sie wie ein Enge aus, habe er gesagt.

Ihre Tränen rollten unter dem weißen Schleier

Er dachte, sie weine vor Glück.

Kurz vor dem Altar, drehte sie sich um.

Und rannte zur Kirchentür hinaus.

Es tue ihr leid, sie könne noch nicht, sie müsse nach Hause.

In die Freiheit. In ihre Welt.


Er fuhr mit ihr zum Flughafen ohne ein Wort

Er drückte ihr ein Rückkehrticket, sechs Monaten gültig, in die Hand.

Er sei sicher gewesen, sie komme zurück


Verwandelt in einen Automaten,

streift sie mit einem Tablett zwischen den Tischen umher

Wo er jetzt lebt, fragt sie sich manchmal.

Ihr Leben, ein Spuck ins Gesicht.

Dienerin der All-Inklusiv-Horde aus dem satten Europa

Eine stumme Sklavin im eigenen Land


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