«Nichts ist lebendiger als Erinnerungen!»
In mir explodiert die Zeitmaschine. Wie eine Droge.
Wie mein erster Joint. Damals am Strand hinter den Mauern von Dubrovnik.
Tief in die Lunge atme ich die Duft des weiten Meer ein.
Stolpere über die ewigen Steine.
Jede Sekunde ist eine neue Version meines Daseins.
Im Paradies gelandet, werden wir, All-Inklusiv-Touristen, nun gleich versorgt.
Und dann von einer Adriaperle zu anderen weiter kutschiert.
Dubrovnik, Ston, Neum, Bacina, Makarska, Split, Trogir, Omis...
Medjugorje, Mostar, Pocitelj, Kotor, Tivat, Bijela.
Orte meiner Sehnsucht. Stachel einer vergangenen Zeit.
Erinnerungen. Ein Stich. Der Schmerz, der mich wach rüttelt.
Alles ist wieder da. Nichts ist mehr wie einst.
«Nichts ist lebendiger als Erinnerungen»
Ich denke an Lorca. Der smarte Dichter, am Rande einer breiten Straße bestialisch ermordet, von spanischen Faschisten erschossen wie ein Hund, steht wieder auf.
Der Phönix aus der Asche, der verbrennt, damit er ewig lebt.
Christus, der für unsere Sünden umsonst gekreuzigt wurde.
Seine Worte lebendig bis Ende der Ewigkeit.
Vergänglich ist das Leben. Ewig die Erinnerung.
Kurz vor Dubrovnik erscheint vor uns wie aus heiterem Himmel eine Fatamorgana:
Eine unendlich lange, elegante Brücke, die über das weite Meer schwebt.
Blitzschnell wird sie uns nach Dubrovnik, die schönste der "Adriaperlen" führen.
Der türkische Reiseführer rezitiert im Stakkato:
2002 gebaut, 5016 lang, 15 km schneller am Ziel.
Die Brücke sei nach dem «Vater der Nation» benannt, sagt er.
Der Türke bemüht sich seinen Namen besonders korrekt auszusprechen
Dr. Fra-njo Tudj-man-Brücke
Ich muss lachen.
Lapsus. Die Betonung liegt falsch.
Die Pausen lang gezogenen zwischen "Tudj" und «man»
Es klingt wie: "die Brücke des Dr. Fran-zi, des Fremdlings!"
Herrlich! Ein schöner Lapsus.
Eine falsche Betonung, die kleine Verzögerung und schon ist es da, das Unbewusste am Werk. Der Freudsche Fehler. Ein Konflikt.
Aber: Wessen unbewusster Konflikt ist das? Seiner oder meiner?
Ich bin hier im Bus die einzige, die diese kleine, kaum hörbare Pause des türkischen Reiseführers zwischen tudj (seltsamer Fremdling) und man registrieren kann.
Welchen heißen Knopf hat der Türke gerade bei mir gedrückt?
In die europäische Geschichte ist «Fra-njo Tudj-man» weder als Brückenbauer noch als guter Vater eingegangen. Im Gegenteil. Der Pate dieser schönen Brücke gilt heute als Nationalist und Kriegstreiber. Als er Anfang der 90er gemeinsam mit den Slowenen Jugoslawien verließ, konnte er den «tausend Jahre alten Traum der Kroaten“, das unabhängige Kroatien, im Krieg gegen Serben erkämpfen. Obwohl das Kommando über die jugoslawischen Arme in den Händen des serbischen Machthabers Slobodan Milosevic lag. Während aber Franjo Tudjman für sein Kroatien kämpfte, schmiedete er gleichzeitig mit seinem «ziemlich besten Feind» die bösen Pläne für die Aufteilung Bosnien-Herzegowina untereinander.
Vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal in den Haag musste sich dafür später Slobodan Milosevic neben allen anderen seinen Kriegsverbrechen allerdings stellen. Franjo Tudjman konnte vor der Verantwortung gerade noch der eigener Tod retten. Knapp vor der Fertigstellung der Brücke.
Die Brücke haben die Einheimischen dann schnell in ihre «Dubrovnik-Brücke» unbenannt. Die Kroaten schauen inzwischen nämlich nur nach vorne: EU, Schengen, Euro.
Sie wollen ihren Tourismus, die einzig sichere Einnahmequelle, aufpolieren und
sich auf dem schwer umkämpften Markt behaupten.
Ich habe einen bösen Verdacht, für den ich mich gleich schämen muss...
'Der macht das extra, der Wachhund...
Mit bemühter Korrektheit spottet der Türke nun über den «Vater der Nation».
Weil er sich bestimmt ärgert, dass es die deutsche Touristen nun an die kroatische Adria mehr als in die Türkei zieht...
Ach. Lass den Mann seine kleinen Späße treiben. Ihn hört hier sowieso keiner so richtig...
Die Schnäppchenjäger dösen vor sich hin, schnarchen oder haben die Hörgeräte abgeschaltet.
Sein eingepauktes ironisches Nuscheln flattert nur noch zwischen meinen beiden Ohren. Wie ein ewiges Omen des 007, der die Welt retten will.
Wäre ich an seiner Stelle in seinem Land, wer weiß, mit welcher List ich Sticheleien über Istanbuler Brücken, Osmanen, Atatürk und Erdogan ausgraben würde, um in die halbtauben Ohren der deutschen Schnäppchenjäger Gemeinheiten einzupflanzen.
Was hast Du? Warum kratzt Du ständig an dem armen Türken?
Warum wohl? Uns verbindet eine 500 Jahre lange Geschichte!
Kein Zuckerschlecken.
Die ziemlich lange Zeit, die alles vermischt und verschmolzen hat.
Herrscher und Untertanen, Täter und Opfer
und nie richtig aufgeklärt wurde.
Guck nur mich an! Die Slawinnen sehen anders aus als ich: blond, blauäugig, feingliedrig!
Mit meinen hohen Wangen, dem dunklem Haar und dem kräftigen Knochenbau bin ich eher eine Nachfolgerin des Dschingis Kans oder eher eines Paschas?
Wenn die Gene sprechen könnten...
Als Kind habe ich die Geschichten aus unserem Wohnzimmer sehr penibel belauscht.
Die alten Legenden, die meine Mutter und Frauen beim Kaffeeklatsch erzählten,
kamen nie ohne böse Osmanen und ihrem «Ius primae noctis» aus,
dem Recht auf die erste Brautnacht.
Alles begann mit einer romantischen Hochzeit und endete mit der Vergewaltigung.
Wie Feudalherren es in den finsteren Zeiten des Mittelalters in ganz Europa taten,
nahm sich der Herrscher Osmane die Braut seiner Untertanen immer als erster ins Bett.
Viele meiner Vorfahren seien deswegen vor Osmanen ständig geflüchtet,
Einige nach Herzegowina, die andere nach Dalmatien oder nach Istrien.
Und immer gibt es einen Ur-ur-urgroßvater, der sich gewehrt hat, den Pascha ermordet hat und dann auf den nächsten höchsten Berg geflohen ist,
um sich mit seiner Braut zu verstecken.
Genau auf einen solchen Berg erblickte ich hundert zwanzig Jahre später die Welt.
Mit einem fürchterlichen Schrei.
Nach dieser Geschichte habe ich mich noch genauer im Spiegel angeschaut.
Wer bist Du? Woher kommt diese Nase? Woher diese Wut? Deine Verzweiflung?
Jede Familie auf dem Balkan hat eine solche Heldensaga.
Einen Ur-Großvater, der den mächtigen Herrscher die Kehle durchgeschnitten hat.
Um seine und die Ehre seines Vaterlandes zwischen den Beinen seiner Braut zu verteidigen.
Ob der Totschlag an Osmanen vor oder nach der «lus primae noctis» stattgefunden hat?
Ob das Recht auf Gewalt auch die Liebe verändern könnte? Wer weiß das heute schon? Wer will das noch so genau wissen...
Alles längst verschmolzen. Wie die Frage nach Täter und Opfer.
Welche Gene schreien nun in mir? Die von einem Opfer oder die eines Täters.
Des türkischen Paschas oder die des bosnischen Helden, seines Mörders?
Wer allerdings den Glauben unter den Osmanen gewechselt hatte, sich zum Islam bekehrte, habe viele Privilegien genießen können.
Die Moslems seien von der «Ius primae noctis» verschont gewesen.
Und von den Steuern auch.
Und: ihre Söhne mussten nicht zur Armee gehen.
Mit diesen Geschichten wuchsen wir auf.
Irgendwann allerdings hätten die alten Osmanen angefangen, genauer zu rechnen.
Irgendwann brauchten sie mehr Steuerzahler und Kanonenfutter als fromme Moslems.
Irgendwann verkündeten sie den Anwerbestopp,
wie später die Deutschen bei den Gastarbeitern.
Irgendwann zählte dann bei Türken Geld und Macht mehr als ihre Religion.
Haben Milosevic und Tudjman im letzten Krieg genau diese Keule ausgepackt?
Wollten sie mein Bosnien-Herzegowina deswegen unter sich aufteilen? Aus Rache?
Als Strafe für die Privilegien, die sie selbst 500 Jahre bei den Osmanen nicht genießen durften?
Am nächsten Morgen springt der Kater aus meinem Kopf.
Die beiden Lungenflügel schnappen im Bett noch nach Luft.
Im Fester glotzt mich die schöne, elegante Brücke an,
Übrigens, sie wurde von zwei deutschen Stararchitekten konstruiert
und von einem deutschen Unternehmer gebaut, wie mich
Dr. Google, der Sofort-Alles-Besser-Wisser gleich belehrt.
Ach! Alles auch hier in der deutschen Hand...
Als hätten die Kroaten keine gute Ingeneure mehr, keine Bauunternehmer in ihrem unabhängigen Vaterland, dem im Krieg erkämften "Tausend Jahre alten Traum. Früher in ex-Jugoslawien waren wir weltweit bekannt als Brückenbauer. Auch metaphorisch.
Vorsicht mit den Träumen!
Den manche gehen tatsächlich in Erfüllung!
Als Alien im eigenem Land fühle ich mich wie aus der Wäscheschleuder der Geschichte herausgezogen.
«Nichs ist lebendiger als Erinnerungen»
PS:
All-Inclusive-Adria, die Reise nach Kroatien, Bosnien, Montenegro, früher alles meine Heimat, heute das Schnäppchenparadies der Frührentner und anderen Glücksvögel aus Deutschland, Frankreich, Dänemark.
Ich war dabei. In der Rolle eines Aliens in der eigenen Heimat.
Die Heimat, die es nicht mehr gibt, zu vermessen. Als 007 in geheimer Mission habe ich die zerstückelte Utopie zusammen zu flicken versucht.
12 Folgen einer Abrechnung mit dem “satten Leben und ewigen Hunger
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