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All-Inclusive Adria: Grenzen (04)


Wo einst die Heimat war, strolchen nun Striche, Schlangen, Schweigeminuten.

Viermal überqueren wir die neuen Grenzen meiner früheren Heimat.

Viermal sammelt unser Türke, der Reiseleiter, unsere Pässe ein. Wortlos.

Er scheint die Launen der Balkanmänner gut zu kennen.

Sie, die grimmigen Grenzpolizisten, betreten unseren Bus in Uniform,

Schweigend nehmen sie aus seinen Händen unsere Dokumente.

Schauen durch ihn hindurch. Blicken finster in die Runde. Suchen nach Verdächtigen.

Unsere Augen kleben am Boden.

Totenstille.


Ich beiße mir auf die Zunge


Mit keinem Zöllner auf der Erde ist gut zu spaßen.

Die Uniformierten steigen aus dem Bus. Verschwinden hinter den Blechhäusern.

Lange. Manchmal zu lange. Stumme Minuten im Bus. Warten auf Godot.

Was suchen sie? Was werden sie finden?


Unsere Geduld, ist ihr Triumpf!

Unser Schweigen ihre Macht.

Unser Frust ihre Satisfaktion.

Dafür haben sie gekämpft.

Für diese neuen, mit Blut gezogenen Grenzen!

Ihr einziger Sieg.

Das schlechte Gewissen der letzten Geschichte.

Alles nur ein Witz, den man erst verstehen muss.


Hinter den zusammen gebissenen Zähnen zähme ich meine Wut.


Ach. Lass sie! Was können sie dafür?

Sie waren Kinder, als der Krieg ausbrach. Oder waren noch gar nicht geboren.


Die armen, uniformierten Automaten!

Mein früheres, freies, grenzenloses Zuhause haben sie nie gesehen.

Nur Stücke. Ihre Stücke. Meine Wunden. Die Überreste einer Utopie.


Ein Likörchen noch?

Das Leben muss doch weiter gehen!


Irgendwann biegen die Männer um die verrosteten Blechhüte.

Irgendwann bringen sie unsere durchgestempelten Pässe zurück.

Irgendwann glotz mich mein Pass an in der Hand eines Grenzpolizisten.

Vom Kopf bis zu Schuhsole werde ich vom skeptischen Gesicht gemustert.

Mit mir, dem Alien in der eigenen Heimat, scheint etwas nicht zu stimmen.


Mein Name, den der Grenzpolizist übrigens perfekt ausspricht, klingt montenegrinisch.

Mein Geburtsort ist bosnisch, mein Pass kroatisch.

Und mein Gesicht...an wen erinnert er ihn?

An eine Mongolin, eine Japanerin, eine Anatolierin?


Wer bin ich? Eine Spionin, vielleicht eine Doppelagentin?

Sein Blick ist aufdringlich.

Mein Kopf hält es aus. Nickt kurz.

Ist was?

Mein Mund spricht es aus. Trotzig.

«Ja, das ist mein Pass. Das bin ich!»


Ich bin also hier die Hauptverdächtige gewesen, auf die alle warten mussten.

Unterwegs in geheimer Mission, schnappe ich mir meine Identität zurück.

Nun will ich die zerstückelte Utopie fleißig in mir weiter flicken.

Der Grenzpolizist drückt die restlichen Pässe dem Türken in die Hand und geht.

Geschafft. Aufatmen. Ab in die nächste Adria-Schnäppchenparadies-Runde.

Mate aus Dubrovnik, der stumme Busfahrer, lässt Motor laufen. Los.


Welche Kräfte waren in diesem armen Land am Werk?


Früher war es alles meine Heimat, heute hütet hier jeder Provinzfürst seine Grenze


Bloddy Balkan go West!

Westbalkan klingt in meinen Ohren wie Westjordanland

Safari für verarmten Rentner aus dem satten Europa.


Im Westbalkanland schlagen sich die Männer weiter auf die Brust

Erklären sich für die Besten und ihre Nachbarn für heimtückische Parias.

Und glauben noch naiv, die Welt damit überzeugen zu können


«Ko ne sluša pesmu, slušaće Oluju»

«Wer kein Gedicht hört, wird Stürme hören!»


Als ich geboren wurde, hängte ein Dichter sein Leid an einer Birke am Rande der Stadt

Der zarte, unschuldige Baum brach in sich zusammen, als der

Dichter verstümmte.

Seine Verse hörte ich in den Nächten, als die Stürme über meine Heimat wüteten.


Warum Krieg ausgerechnet im liberalsten, schönsten, sozialistischen Land?

Ein Krieg für Grenzen im Südosten, als das Westeuropa die Schlagbäume zersägte


Der Türke schweigt noch immer. Denkt er nach?

Eine kurze Pause vor seiner nächsten Nuschelntour?

Die rüttelnden Geräusche des rollenden Buses

Brummen, Brummeln, Bremsen wie Blues.

Das Husten der Fahrgäste. Ihr Murmeln. Schnarchen.

Zittrige Gedanken im faltigen Köpfen.

Das ewige Tratschen hinter der vorgehaltenen Hand.

Alles fügt sich ein. Wie ein verstimmtes Orchester.


PS:

All-Inclusive-Adria, die Reise nach Kroatien, Bosnien, Montenegro, früher alles meine Heimat, heute das Schnäppchenparadies der Frührentner und anderen Glücksvögel aus Deutschland, Frankreich, Dänemark.

Ich war dabei. In der Rolle eines Aliens in der eigenen Heimat.

Die Heimat, die es nicht mehr gibt, zu vermessen. Als 007 in geheimer Mission habe ich die zerstückelte Utopie zusammen zu flicken versucht.

12 Folgen einer Abrechnung mit dem “satten Leben und ewigen Hunger







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