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HUNGER beim „Sultan“ - vom satten Leben...


Ich betrete die laute Straße, irre um den Block, steige in den Bus und lande im Zentrum, am Aachener „Bushof“, da wo im Minutentakt aus allen Richtungen Busse ein- und ausfahren. Ich bin gerade angereist, den Koffer abgelegt. Mein Magen knurrt. Ich vermesse Koordinaten, registriere viele gierige Blicke und lasse mich entschlossen von meiner Nase direkt zum „Sultan“ führen.

Vor der langen Theke des Schnellimbisses mit fünf Sternen und dem Gedränge: Menschen, Geräsche und Düfte vor dem am Spieß drehendem Fleisch, reihe ich mich ein.

Vor mir ein hungriger „Agent“ in zerknittertem Peace-Brother-T-Shirt, der aussieht, als wolle er die Welt retten. Wie, vor wem und wie genau, will ich gleich wissen.


„Vučko & Tito“

Er fällt mir sofort auf, ich ihm, glaube ich, auch. Sein verlegenes Lächeln und ein dünnes, seidiges Haar, um sieben Nuancen heller als der Rest der Köpfen in der langen Schlange sind nicht zu übersehen. Ich schätze ihn auf 47.

Zwei kleine dunkelhäutige Mädchen in Sari-Kleidern, kaum größer als ein Stock, hüpfen um einen Mann im weißen Gewandt. Ihr Vater oder Großvater, der ihnen, sobald sie ruhig sind, über ihre Köpfe streicht. Die Kinder studieren den Mann mit dem hellen Seidenkopf. Er registriert ihre Blicke und geht in die Offensive:

„Hi, little girls, do you come from India?“

„No, nooo…“ sagt die eine. „We come from Pakistan!“ ergänzt die andere:

„And you?“

„I´m German, I come from Stuttgart!“, höre ich ihn, seine Heimat stolz zu betonen. Ein echter „Schwabo“ also.

Die beiden Mädchen hüpfen auf der Suche nach dem nächsten Wunder weiter.

Der Schwabo spürt meinen Blick im Nacken, dreht sich um und nimmt mich in Angriff:

„Die Tour der France macht hungrig, ne? Waren sie auch dabei?“

„Nein, leider knapp verpasst!“

„ Ach, Sie kommen auch nicht von hier?“ fragt er.

„ Nein. Ich komme aus Köln. “, höre ich mich behaupten.

„Aus Köln?“ Er misst mich längs und quer:

„Und ursprünglich?“.

Oh Gott. Ursprünglich? Eine schwere Frage für jemanden wie mich. Wo fange ich an? Das kann schnell eine lange Geschichte werden. Ein Vierteljahrhundert lang… In Sarajevo, damals Jugoslawien, kurz vor dem Krieg…Seitdem mag ich diese Frage nicht.

„Tschechien? Polen?“ höre ich den fröhlichen Schwaben raten.

Ich will es ihm und mir nicht zu schwer machen und mache es kurz:

„Sarajevo, Ex Jugoslawien…“

„Ach… Vučkoooo! Titoooo!!“ grinst er.

Ich muss lachen. Mein früheres Leben skurriler zu assoziieren, könnte ich auch nicht. Der friedliche Wolf aus Sarajevo, das lustige Maskottchen, das uns und dem Rest der Welt die beste Winter-Olympiade aller Zeiten beschert hat und das Schlitzohr, der Yugo-Chef, der Faschisten besiegt hatte, Stalin „Nijet“ zu sagen wagte, uns mit einer kleinen Utopie, dem Selbstverwaltungs-Sozialismus der „Brüderlichkeit und Einheit“ jahrzehntelang verführte, auf dem internationalen Parkett zwischen Westen und Osten, Sozialismus und Kapitalismus wie keiner anderer tanzte, dem die Königin Elisabeth eine gläserne Kutsche schenkte, Kennedy einen Chevrolet, Gaddafi ein Kamel und Gandhi zwei Elefanten. Damals glaubte ich, wir seien der Nabel der Welt…

„1A!“, sage ich, „Volltreffer!“


Wir, zwei hungrige Alliens, sitzen danach wie alte Kumpels zwischen all den jungen Männer mit Bärten aller Sorten: kurz, lang, wild, gepflegt, ihre Augen aufdringlich, unruhig, hungrig. Auf der langen Bank aus Sperrholz verschlingen wir hastig unsere frisch erworbenen Leckereien. Er einen Döner, ich meinen in Alufolie eingepackten Lamacun und Ayran.

Um uns herum summt es wie in einem Bienenstock. Das Nachtleben der jungen Menschen, viele Ankömmlinge unter ihnen, die vom Alter her unsere Kinder sein könnten, beginnt gerade jetzt und hier. Mit Hunger. Am Fließband. Beim „Sultan of Kebab“. Sie reden laut, blicken ernst, viele sehen gestresst aus. Ich spitze meine Ohren: erkenne Arabisch, Persisch, Türkisch, und ab und an schnappe ich ein paar Wörter Deutsch auf:

„Ja, Bruder…alles…oder nix, hey Mann, kompliziert… “



Jung, hungrig, arbeitslos

Der Schwabe staunt:

„So viele junge Männer!“ Das wäre er auch noch mal gerne, so jung… aber nicht so arbeitslos!“

„Ich verstehe, leider kann man nicht alles haben!“ rezitiere ich die Standardweisheit meiner georgischen Freundin.

„ Ob die Jungs hier noch die Kurve kriegen?“ rätselt der Schwabe.

„ Sie schaffen das, keine Sorge! Wir haben es auch geschafft…“

Der Schwabe schüttelt besorgt den Kopf.

„Die Welt ist heute anders als damals, als wir noch jung waren…“ sagt er wehleidig. „… damals gab es noch Sozialismus…“ meint er.

Ich bin überrascht.

„Ach, das hört sich an, als ob Sie das kaputte System vermissen würden?“ frage ich ihn.

„Ja… im Sozialismus haben alle eine Arbeit gehabt, musste keiner auf der Straße gehen, und auf doofe Gedanken kommen. Und der Kapitalismus... damals hatte er einen Gegengewicht, musste sich anständig benehmen…“ sagt er.

Ich nicke.

„Leider fehlte im Sozialismus die Motivation….“ sagt er.

„… und die Demokratie!“ füge ich hinzu.

Das System, das Bildung, Gesundheit und Gerechtigkeit nicht nur verspricht, vermisse allerdings auch ich!

„Jetzt sind der Westen und der Osten wieder vereinigt. Im globalen Raubzug des Turbokapitalismus. Der muss jetzt gegen ganz anderem Kaliber kämpfen: gegen den die Islamisten, Salafisten, Dschihadisten, schwadroniert der Schwabe.

„Vielleicht sind das seine eigenen Auswüchse…?“ höre ich mich sagen.


Angst, Ausländer, Agent

Als wir die Reste des Sultans-Fastfoods verschlingen, sitzen wir vor dem leeren Plastiktablett und rülpsen. Unsere Mägen muss jetzt „Sultan“ verdauen. Ich brauche einen Mocca und lade den „Schwabo“ ein. Er blickt unruhig, wolle lieber woanders hingehen, sagt er. Hier fühle er Angst, gibt er zu.

„Angst?“ staune ich über seine Ehrlichkeit.

Ich verstehe. Wäre ich hier alleine, hätte ich längst das Weite gesucht. Mit ihm, dem redseligen Schwaben, der mir an diesem Juliabend meine Einsamkeit vertreibt, fühle ich mich sicher. Ich will hier und nirgendswo anders einen Kaffee trinken, um meinen, seinen Ängsten und all den, die hier bei „Sultans of Döner“ heute Abend ihr Stück Heimat gefunden haben, in die Augen sehen.

Ich will verstehen, diese Angst, die uns lähmt, trennt, die zwischen uns steht, wie ein Monster. Sie ist so menschlich, wie die Liebe und der Wunsch, dazu zu gehören. „Keine Panik auf der Titanic!“ sage ich dem Schwaben. „Ich bin hier. Hier bin ich eine von ihnen, praktisch ihre Schicksalsschwester… die Ausländerin“.

Er lacht verunsichert, nimmt meine Einladung zögernd, aber mutig an.

Hinter der Mocca-Theke bedient ein hübsches Gesicht unter leuchtend blauem Kopftuch. Es lächelt schüchtern, als ein kräftiger, wuscheliger Junge in einem weiten, schwarzen Trainingsanzug mit drei Streifen auf Deutsch bestellt:

„Einen kräftigeren Mokka als sonst, ruhig ein Löffelchen mehr, bitte!“

der Stuttgarter mustert den Jungen kurz, lacht dann als ob er einen guten Witz gehört hätte, bevor er eine neue Recherche startet.

„ Neeeh, kein Türke, ich stamme aus dem Irak“, sagt die schwarze Trainingsmontur.

Er sei vor über zehn Jahren nach Aachen gekommen, erzählt er, geflohen vor dem Krieg, nach dem Saddam getötet wurde…

„So lange her, auch dieser Krieg?“ staune ich.


Die Rollen der Bösen

Warum ausgerechnet die Araber, die Rolle der Bösen in der Welt jetzt besetzen, frage ich mich.

Bei uns, damals in Sozialismus, waren Araber die Guten, unsere Verbündeten. Zu uns kamen sie als Mitglieder der „blockfreien Bewegung“, um mit uns und Tito die Welt zu retten… vor den Atombomben der bösen Russen und genauso bösen Amerikanern. Wie früher vor den „bösen Schwabo“, den deutschen Faschisten im 2.Weltkrieg. Bevor Tito und Willy Brandt auf der Insel „Brioni“ kubanische Zigarren geraucht hatten und Tito die deutsche Schuld an unserem Land vergaß und Willy unsere Arbeitslosen in seine Gastarbeiter verwandelte, wie meine Lieblingstante.


Mein Vater hat lieber bei Gaddafi gearbeitet. Unsere Nachbarin verdiente bei Saddam ihr Geld als Köchin. Wenn Djamal aus Palästina bei meinem Bruder sonntags zu Instruktionen in Architektur kam, spielte er zuerst mit unseren Vater zwei-drei Runden Schach. Da staunten wir, dass er Vaters Arabisch offensichtlich verstehen könnte. Die Mutter servierte ihnen Menta-Tee, den Djamals Mutter mit lieben Grüßen aus Ramallah geschickt hatte.

Bosnien, das im Herzen Jugoslawiens und Europas lag, hatte die Tür zum Osten und zum Westen gleich weit geöffnet. Das Zusammenleben von Moslems, Christen, Juden und Atheisten war eine Selbstverständlichkeit. Die Andersartigkeit wurde mit Neugier und Herzlichkeit als Geschenk des Himmels gelebt.


Unser im Krieg verlorenes Paradies haben nun die Saudis entdeckt. Dank Facebook, Instagram kommen jedes Jahr nach Sarajevo immer mehr reiche Araber mit ihren verhüllten Frauen, Töchtern und Müttern, berichtet ein Kollege von „Oslobodjenje“, der Zeitung, für die ich früher geschrieben habe.

„So viel Grün, so viel Wasser, Schatten, Berge, leckere Speisen… alles zum Spottpreis… Saudis wollen nirgendwo anders hin, fühlen sich bei ihren Glaubensbrüdern, den bosnischen Moslems, phantastisch!“


Der Schwabo bei „Sultan“ geht mit seiner Tasse Mocca leger durch den neonhellen Laden, sucht uns einen freien Platz und setzt sich dann mutig hinter einer Gruppe bärtiger Männer in Hochwasser-Hosen, den ich eher aus dem Weg gehen würde.

„Warum muss er ausgerechnet an diesem Tisch sitzen?“ frage ich mich.

Der Tisch glänzt sauber wie kein anderer. Es ist nicht zu übersehen, dass sich da sonst keiner hin traut. Doch wir, beide Aliens im Alter ihrer Eltern, Narren – er Deutsch, ich Frau, – wagen es, sich so gefährlich nah an diesen Finsternissen niederzulassen.

Hoffentlich startet der Schwabo keine neue Recherche. Die Jungs sehen nicht so aus, als ob sie Lust hätten, auf seine Fragen brav zu antworten, wo sie herkommen, wie lange sie hier sind, so wie vorhin die kleinen Mädchen im Sari, der Iraker oder ich.


Lange Bärte, kurze Hose, düstere Blicke

Ich fange an, meine Ohren zu zuspitzen, verstehe nichts. Besser wäre, er ist ein Agent und lauscht unauffällig, welche Pläne die bösen Jungs mit langen Bärten, kürzen Hosen gerade schmieden. Solche Jungs kommen oft auf komischen Ideen, die nicht nur ihnen schaden können.

Mein Blick schweift hin und her. Vom Schwaben, der entspannt seinen Kaffee schlürft zu den harten Jungs, die er im Rücken und ich im Auge habe. Sie schauen durch uns hindurch, scheinen uns gar nicht registriert zu haben.

Sind sie wirklich so böse, wie sie aussehen? Würden sie im Namen Allahs unschuldigen Menschen töten? Vielleicht haben sie selber Angst? Und wollen nur eines: böse gucken, um sich Respekt zu verschaffen! Auf der besseren Seite des Lebens stehen, wie die gleichaltrigen Hipster, denen sie verdammt ähnlich sehen. Machen sie das böse Spiel, weil sie selber Angst haben? Weil sie nie dazugehören dürfen?


„In der Zwickmühle“

Meine Gedanken sind wieder in Sarajevo. Bei den Arabern. Sie sind heute ein zweischneidiges Schwert in Bosnien. Sie bringen Geld ins Land, das Bosnien nötig hat, aber sie laufen mit ihren bis auf die Augenschlitze in Schwarz vermummten Frauen und einer Herde lauten Kindern durch das Land wie Außerirdische, ohne Kontakt zu den Einheimischen zu suchen. Wo sie hinkommen, herrschen neue Gesetzte, ohne Alkohol, Musik und Witze.

„Who pays, who says!“ sagen die bosnischen Wirte und zählen zufrieden ihre Dollars.

Die Araber „schwimmen“ im Geld, heißt es in Bosnien. Gegen den Araber als Touristen hätten sie nichts. Im Gegenteil. Geld ist das, was Bosnier an Arabern am meisten interessiert. Aber die Araber wollen mehr von Bosniern. Sie kaufen alles auf, was sie finden können: Immobilien in jeder Lage. Im großen Stil: Landflächen bis zu 10 Hektar und mehr! Den Preis bestimmen sie. Unter einen Dollar bezahlen sie pro Quadratmeter. Dahinter stecke ein Plan! vermuten die besorgten Bosnier.

Die bosnischen Muslime fühlen sich nun in der Zwickmühle. Von den Westeuropäern sind sie unter Generalverdacht als Muslime geraten und von den Arabern als schlechte Moslems ins Visier genommen, denen der „echte Islam“ beigebracht werden müsse.


Der Schwabe mit fröhlichem Grinsen, scheint nun seine Angst vor Arabern gänzlich verloren zu haben. Er hat sich nun noch näher an die Gruppe der bärtigen Jungs in den kurzen Hosen und mit den düsteren Blicken gewagt.

Ein Agent? Bond? James Bond? Der im Auftrag der Geheimdiensten seine Antenne im „Sultan“ installiert? Um die gefährlichen Pläne der verlorenen jungen Männer rechtzeitig zu vereiteln?

Er liebe die Welt, sagt er. Seine Familie lebe seit 500 Jahren in Stuttgart, aber er sei lieber unterwegs. Früher als Schreiner, jetzt als Manager „beim Bosch“. Er habe sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt, dann BWL studiert. Wirtschaft dirigiere heute die Politik. „Früher war es andersrum“, palavert er.


Zu spät...

Die Teegläser der jungen Araber sind schon längst ausgetrunken, einer unter ihnen, der mit dem längsten Bart, hält gerade einen Vortrag; er blickt ernst, mürrisch, die anderen hören konzentriert zu, einer kaut an den Resten seines zusammengerollten Döners.

„Die könnten die Brüder von Che und Castro sein, wenn sie nicht so böse gucken würden“ will ich sie freundlich dekodieren, beiße mir aber auf die Lippen, schwärme lieber von Aachen, der Eifel und der Dreiecks-Region, in dem Deutschland endet und Europa beginnt, oder andersherum?

Er liebe diese Stadt „der deutschen Königen, Kaiser, Kurfürsten…“, leider sei er hier nur unterwegs, immer auf dem Weg nach Europa: nach Brüssel, Paris, London…, sagt der Schwabe und schaut durch die dicken Fensterscheiben auf die dunkle Straße. Heute bleibe er zum ersten Mal „beim Karl“ über Nacht. Ganz in der Nähe vom Aachener Dom. Morgen gehe es weiter nach Luxemburg… Der Schwabe wackelt auf seinem Stuhl hin und her. Er hoffe, sagt er, dass die Welt noch lange so bleibe…

„So bleibt?“ staune ich.

„Die Welt darf nicht so bleiben!“ protestiere ich: „Die Armen können nicht immer ärmer und die Reichen nicht immer reicher werden!“

„Für die Veränderung ist es leider zu spät!“ sagt der Schwabe.

„Zu spät?“

Er sei seit zwanzig Jahren „global unterwegs“, er wisse, wie „die Bosse und Drahtzieher“ tickten:

„Keiner gibt etwas ab ohne Widerstand“ sagt er.

Ich nicke. Leider hat er Recht.

„Jede Veränderung bedeutet Krieg und Vertreibung!“ Sein besorgter Blick wandert durch die Sultan-Bude, die nach Knoblauch, Lamm und Frust riecht.

Ich schweige. Ihm, dem „Agenten vom Schwabenland“ muss ich an diesem Abend zum dritten Mal Recht geben.Vor einem Vierteljahrhundert habe ich mein Ex-Land und mein Ex-Leben im Krieg verloren. Seitdem kommt die Welt nicht zur Ruhe... 11. September, Afghanistan, Irak, Libanon, Arabischer Frühling, Syrien…IS...Trumpf…

Die Welt zu retten, wäre es mir lieber. Das kann er, der "Peace-Brother -Schwabo", das sehe ich, definitiv nicht!


***

veröffentlicht von Slavica Vlahovic am 28.07.2017 10:04 in: www.stadt.land.text.de

als NRW Stipendiatin war ich von Juli bis Oktober 2017 im Region Aachen als Stadtschreiberin unterwegs.

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