„Zwei bosnischen Mokka, bitte!“ bestelle ich in einem Restaurant im Naturpark der „Vrelo Bosne“, der Quelle Bosniens, dem beliebtesten Ausflugsort von Sarajevo.
„Keinen Mokka! Nur Espresso!“ informiert mich in kurzem Stakkato-Rhythmus ein schlecht gelaunter, dürrer Kellner, während er ein rotes Tablett auf drei Fingern seiner rechten Hand tanzen lässt.
„Wie, bitte? Keinen „Bosanska“ hier??“
Ich traue meinen Ohren nicht, kann mein Entsetzten nicht verstecken.
Der Kellner zuckt kurz mit den Schultern.
„Schade!“ seufze ich.
„Es ist gar nicht schade, liebe Frau, glauben Sie mir!“ Er stellt abrupt sein Tablett auf den Tisch und wird noch deutlicher:
„Der Espresso schmeckt einfach besser! Keine Kaffeekrümel zwischen den Zähnen…“
Ich muss lachen. Dass ich heute, hier an der Quelle Bosniens, keinen Mokka bekomme, ist unfassbar. Dass ihn ausgerechnet der italienische Espresso, der Inbegriff der weltmodernen Schnelligkeit vertrieben hat, erschreckt mich. Dass der alte, unverfälschte, ironische Ton des bosnischen Kellners noch völlig intakt geblieben ist, das imponiert mir allerdings.
Meinem deutschen Mann überhaupt nicht.
Er, der bosnische Schwiegersohn, schüttelt nur mürrisch den Kopf. Er liebe den eigenwilligen, charakterstarken Geschmack des bosnischen Mokkas, er ziehe ihn selbstverständlich immer dem feinen, aber flachen, längst normierten italienischen Espresso vor, auch dem wieder im Vormarsch befindlichen, von Hipstern entdeckten, deutschen Filterkaffe. Die Zeremonie der Zubereitung, die Zeit bis die Kaffeekrümel sich am Boden langsam festlegen, um weiter ihr Aroma abzugeben, versteht er als Meditation, als Entschleunigung gegen die Hetze der Effizienz und der Selbstoptimierung, in der er auch täglich stecke.
Das liegt, ich schwöre, nicht an mir.
Mit dem „Mokkafeeling“ haben ihn, meinen deutschen Gatten, die Bosnier noch vor Jahren in einem deutschen Flüchtlingsheim in Deutschland angesteckt, als er plante, ihre Rückkehr nach Hause mit der Kamera für seinen Dokumentarfilm zu begleiten. Doch statt nach Bosnien zurückzukehren, flüchteten seine Protagonisten lieber weiter, nach Australien, Kanada und in die USA. Er war völlig verblüfft. Dann verzweifelt. Bis die Rettung kam. Ich.
Das Mokka-Ritual mit mir, das in die Länge gezogene, nachdenkliche Nippen an den kleinen Schälchen, hat meinem deutschen Mann damals geholfen, seine Ruhe zu finden und einen kühlen Kopf zu bewahren. Bevor er ihm völlig verdreht wurde. Das war, schwöre ich, nicht nur meine Schuld, er wollte das auch! Und heute noch braucht er seine tägliche Mokkadosis, um seinen Zweifeln, Unruhen und Niederlagen, einige auch mit mir, mit Gelassenheit zu begegnen. So wie Bosnier es seit Jahrhunderten tun, mit Zuversicht und Ironie an ihren Mokka nippen und nach vorne blicken trotz aller Widrigkeiten, Tragödien und Katastrophen, inklusive des letzten Bosnienkrieges und des darauf folgenden, wackeligen Friedens und der „Privatisierung“, dem Raubzug der korrupten bosnischen Politiker, die das arme Land unter sich langsam aufteilen.
*
Nicht zu wundern, dass ganz Bosnien heute von früh morgens bis spät abends nach Mokka riecht.
Mokka ist kein normaler Kaffee.
Mokka ist Magie: ein Zauber, Diplomat, Stratege,
Mediator, Unterhalter, Priester, Arzt,
Psychotherapeut. Droge.
Alles in einem.
Mokka, der ultimative Multiplikator, ist in Bosnien immer im Einsatz:
Vor und nach dem: Essen, Streit, Kopfschmerzen, Sex,
Mokka, nach und vor der Depression, Diabetes, Gallenstein
Mokka, die Entspannung vor und nach der Verspannung,
Mokka, die Versöhnung vor und nach dem Streit.
Mokka, der Friede vor und nach dem Krieg
Mokka, Leben und Tod.
Mokka, Warten auf Godot.
Kaffee sei im Bosnienkrieg mit Tabak eine eigene Währung gewesen.
Der Mokka und Zigaretten seien in der Zeit der Okkupation von Sarajevo stärker als der Gestank der Kriegskanonen gewesen, schwören meine Freunde, die den Krieg zu Hause erleben mussten.
Doch die Kaffeebohnen seien so teuer und so selten aufzutreiben gewesen, dass viele den Mokka aus gerösteten Weizen zaubern mussten. Die Illusion habe perfekt funktioniert, verhöhnen die Bosnier ihr böses Schicksal.
Mokka kam nach Bosnien vor über 500 Jahren. Mit den alten Osmanen. Als ihr Reich unterging und sie gehen mussten, blieb Mokka.
Ohne Mokka, den „turska“, wie die Bosnier ihren Kaffee zu Hause heute noch nennen, kann man sich in Bosnien weder Geburt noch Hochzeit oder Tod vorstellen.
Der Tod, ernst wie ein Grabstein, stumm wie die Ewigkeit, ist ohne Geruch. Bis der Duft des Mokkas die Hinterbliebene und Trauergäste zu Anteilnahme, Mitgefühl, Versöhnung und zu einem neuem Leben wieder erweckt.
Das Schweigen der Hinterbliebenen wechselt dann ins Schluchzen und Schlurfen des Mokka aus den kleinen Tässchen, bevor die erste „Oohs“ , „Aahs“, „Ahjaas“, „ Najaa“… aus trockenen Kehle krabbeln.
Ja und zwischen zwei Mokka-Schlucken sagen die Bosnier dann über ihre Toten, er / sie sei eine „schöne Seele“ gewesen!
"Die schöne Seele"
Die schöne Seele ist der höchste Wert in Bosnien. Noch vor Mokka.
Und nicht nur weil die Bosnier Werte wie ehrgeizig, erfolgreich, diszipliniert, reich, schlau, groß, schnell, fleißig, berühmt, populär, adelig, nobel, bedacht, eifrig, scharfsinnig, oberschlau… nicht schätzten und anstrebten - ohne sie gäbe bei Olympischen Spielen gar keine Medaillen- sondern weil die Idee der „schönen Seele“ für die Bosnier älter und sogar stärker als der Tod ist. Sie ist der Kern des Menschseins. Man merkt es schon hinter der Grenze: Alles wird langsamer: keine Autobahn, keine Werbung, idylische Dörfchen mit Kirchturm und schmalen Minaretten, in den Vorgärten Mokka schlürfende Menschen unter Zwetschgenbäumen. Als ob sie aller Zeit der Welt bis in die Ewigkeit hätten.
Mein Großvater hat einmal in einem Busbahnhof einen Reisenden, der genüsslich über eine Stunde an einem Mokka nippte, aus lauter Begeisterung ein zweites Tässchen ausgeben, weil er dachte, dass sei ein Fremder, der die Bosnier und ihre Seele verstanden hätte. Doch beim Blick auf die Uhr habe der Tourist, den zweiten Mokka sofort in einem Zug hinunter gekippt, um seinen Bus nicht zu verpassen, wie mein Großvater seine Illusion erkannt und lachend zugeben musste.
„Eine schöne Seele“ sei auf dieser Welt, das haben die Bosnier verstanden wie Aristoteles vor Zweitausend drei Hundert zwei und sechsig Jahren auch schon, so eine seltene, kostbare, edle, unersetzbare, unbezahlbare Gabe. Die schöne Seele der Bosnier ist alt und jung zugleich, neugierig wie ein Kind und bewegt sich gemütlich, langsam, ohne Hetzte wie ein alter Mann, der schon alles hinter sich hat. Die schöne Seele träumt immer weiter und schwebt zwischen den Zeiten . Sie lächelt geheimnisvoll und ist frei wie Zugvogel, und im Einklang mit sich selbst, auch bei Hunger und Kälte.
Madona, Pyramiede, Tunnel
Viele glauben sogar, dass die Madonna ausgerechnet wegen diesen vielen guten, „schönen Seelen“ in Medjugorje, einem der ärmsten Dörfer, gelegen auf dem steinigen Berg in Herzegowina direkt nach Titos Tod erschienen sei.
Die über die Grenzen hinaus bekannte „bosnische Pyramide“ aus Visoko bei Sarajevo kursiert inzwischen als mögliche Heimat der "schönen bosnischen Seele“.
Ein in Amerika ausgewanderter Bosnier hatte bei seinem Heimatbesuch nach dem Krieg unter einem Berg so etwas wie eine Pyramide entdeckt, die angeblich noch älter als alle in Ägypten sei, magische Strahlungen habe und viele unheilbare Krankheiten heile.
Und auch der im Krieg geheim gebaute Tunnel unter der Flughafenpiste von Sarajevo, der die Stadt fast vier Jahre am Leben gehalten hat, ist heute zu einem Pilgerort geworden. Hier spüre man die Kraft der „schönen, guten, trotzigen, bosnische Seelen“ , die mit Kreativität, Solidarität und Geistlichkeit die Übermacht der Waffen, Gewalt und des Materialismus besiegt habe.
Ob nun der Tunnel von Sarajevo, die Visokos Pyramiden oder die Madonna aus Medjugorje am besten gegen Gewalt, Kriege, Krise und Krankheiten aller Art inklusive: Burnout, Depression, Angststörungen, Sozialphobie oder Panikstörungen am besten helfen kann, ist nicht bewiesen. Die Kombination hat bislang niemandem geschadet. Im Gegenteil. Das wissen inzwischen auch schon die westlichen Heiler und Glücksversprecher aller Art, die sich im Netz mit der Geschwindlichkeit von Fakenews über Corona verbreiten. Sie preisen ihren unzähligen Followern schon längst diese bosnischen magischen Orte als Top-Geheimtipps an und organisieren teure Reisen dorthin. Und: viele finden dort tatsächlich ihr ultimatives Glück. Sei nur für ein paar Tage oder Stunden, die sie dort verbringen.
Ich glaube eher, dass hinter dem Geheimnis der "schönen bosnischen Seele" die Magie des Mokkas steckt.
Der Mokkaduft und die Zeit, die man sich für seine Zubereitung nimmt, das langen Warten, bis sich der Kaffeesatz auf den Boden legt und von dort den Duft noch lange abgibt, das langsame Nippen, riechen, gucken, lutschen am Zuckerwürfel oder dem „Rahat Lokum“, ohne den Mokka nie serviert wird, hilft nicht nur meinem deutschen Mann, sich vor Ort vollkommen zu entspannen und sich von Stress, Effizienzdrang, Ehrgeiz, Erfolg und Fleiß zu befreien.
Danach strahlt auch er wie eine „schöne Seele“, von der die Bosnier am liebsten sprechen, wenn einer unter der Erde schon liegt. Gesammelt um den Mokkaduft nach der Beerdigung, sehen sie gleichzeitig dem Tod und dem Leben direkt in die Augen und wissen, dass das eine ohne das andere nicht existieren kann, so wie Gut und Böse.
Nach Mokka kommt der Schnaps, der selbstgebrannte Sliwowitz, damit die Trauer langsam wieder in Freude übergehen kann. Die „schöne Seele“, deren Körper sie gerade unter die Erde gebracht haben, wird langsam bunt und lebendig, ein wenig frech, schlitzohrig, lustig, sauer und ein wenig auch böse. Erst wenn die „schöne tote Seele“ durch die Mokka- und Schnappsmagie zu einer Vollkommenen wird, wie sie es im Leben meist nur selten war, können sich die Trauergäste von ihr verabschieden und wankend nach Hause gehen.
Wie der Tod schafft auch die Hochzeit ohne Magie von Mokka und Schnaps seine Vollkommenheit nicht. Mokka steht bei der Zeremonie direkt hinter der Braut im Mittelpunkt. Die Braut und der Bräutigam feiern ihre Liebe mit Essen, Trinken, Tanzen und als Krönung kommt zum Schluss immer der Mokka. Wenn die aromatische dicke Flüssigkeit serviert wird, ziehen die Gäste feierlich aus ihren Taschen die weißen Briefumschläge mit feinen Karten, besten Wünschen und der bosnischen konvertiblen Mark, Euros oder Dollars und sind mit sich und der Welt im Reinen:
„Auf ein langes, glückliches Leben mit vielen Kindern und leckerem Kaffee!“
Mokka, das ist die Zeit, die man sich für und miteinander nimmt. Bosnier, die sich im Krieg bekämpft hatten, sitzen oft wieder versöhnt um den Mokka. Zwischen zwei Schlückchen ihres „Turska“ schluchzen sie wehleidig, bevor sie sich gegenseitig Briefe und Fotos ihrer Kindern und Enkelkindern auf den Handys zeigen, die nun weltweit zerstreut leben, irgendwo in Deutschland, Schweden, Amerika, oder Australien, Südafrika oder Südamerika.
Die Wirkung der Mokka Magie haben inzwischen auch die Araber aus Katar, Kuweit oder Saudi Arabien, die Bosnien jedes Jahr okkupieren, erkannt. In Bosnien schmecke ihnen der Mokka, sagen sie, besser als zu Hause. Es läge am Wasser, vermuten sie. Nirgendwo gäbe es soviel gutes Wasser, bunte Wälder und frische Luft wie in Bosnien.
Das weiß schon längt auch mein deutscher Mann und kann es noch immer nicht fassen, wie abfällig der dürre, bosnische Kellner, der uns gerade den „italienischen“ Espresso serviert, ausgerechnet hier im Pavillion an der Quelle des Flusses „Bosna“ über sein Lieblingsgetränk urteilt. Er versucht ihm noch einmal die Augen zu öffnen und schwärmt schon wieder vom der würzigen, charakterstarken, bosnischen „Brandmarke Mokka“ . Der Kellner grinst:
„Klar“, sagt er. Wer, wenn nicht ihr Touristen und die alten Bosnier hätten sonst so viel Zeit, um mit den Mokkasatz zwischen den Zähnen die Welt „sieben mal sieben“ zu erklären und alles beim alten Kram lassen. Der bosnische Kellner liebe die Schnelligkeit und die Dynamik des Westens. Und habe im Übrigen jetzt keine Zeit mehr. Draußen warte schon ein neuer Reisebus.
„Dieser bosnische Kellner“, regt sich mein deutscher Mann auf, habe vom Westen offensichtlich völlig falsche Vorstellungen. Im Westen boome gerade die Nachhaltigkeit- und die Slowfood-Bewegung, belehrt er ihn. Die „Brandmarke Mokka“ sei „garantiert“ der nächste Startup-Trend, prophezeit er. Die cromglitzernden Tausend-Euro-Esspressomaschinen könnten die Gentrifizierungsbourgeoisie in ihren Altbau-Lofts langsam einpacken.
Der Kellner nickt, zieht seinen linken Mundwinkel spöttisch zum Ohr und serviert uns zum Espresso noch zwei Stückchen „Rahat Lokum“
„Vom Haus! “ sagt er und zwinkert.
Das süße, glibbrige Honighäppchen, das zum Mokka als Vergnügen und Ruhe für den Gaumen serviert wird, schafft es schließlich, meinen deutschen Mann trotz des Espresso wenigstens ein wenig zu beruhigen.
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